An der Tagesschule Ländli in Baden herrscht ein gutes Klima. Eine Befragung der Buben und Mädchen der 4. bis 6. Klasse zeigt: Mehr als 90 Prozent fühlen sich im Unterricht wohl. Ein Aspekt bereitet der Schulleitung aber Sorgen: Fast die Hälfte der Kinder gibt an, Angst vor Prüfungen zu haben. So steht es in einem Elternbrief von Ende Juni.
Natürlich: Die Umfrage ist nicht repräsentativ, nur 25 Kinder haben daran teilgenommen. Auf einer Skala von 1 bis 6 nahmen sie Stellung zur Aussage: «Ich habe oft Angst vor Prüfungen.» Was die Kinder darunter genau verstehen, bleibt offen. Schulleiter Oliver Pfister sagt aber: «Wir stellen fest, dass viele Schülerinnen und Schüler unter Druck stehen.»
Am Montag beginnt in etwa der Hälfte der Kantone das neue Schuljahr. Leistungsdruck ist ein allgegenwärtiges Thema. Und er kann sich in Prüfungsangst manifestieren: Die Kinder und Jugendlichen haben gebüffelt. Sich Mühe gegeben. Den Stoff noch einmal repetiert. Sie wollen die Eltern nicht enttäuschen und vor Lehrperson und Klassenkameraden gut dastehen. Dann kommt der Moment. Die Lehrperson teilt die Prüfungsblätter aus. Der Puls steigt, die Hände zittern, vielleicht ist das Gelernte jetzt wie weggeblasen. Die lähmende Prüfungsangst schlägt zu.
«Mein ganzer Körper beginnt zu zittern, als wollte er die Angst wegschütteln», sagt zum Beispiel eine Gymnasiastin aus dem Kanton Freiburg. Das Westschweizer Radio und Fernsehen berichtete im Juni, dass sich das Phänomen Prüfungsangst in den letzten 10 Jahren verschärft habe. Jeder dritte Gymnasiast und jede dritte Gymnasiastin, die sich an die schulpsychologischen Dienste wenden, tun dies aus diesem Grund. An der Kantonsschule in Bulle können Jugendliche Kurse besuchen, in denen sie Strategien zur Stressbewältigung lernen. Im neuen Schuljahr werden alle Lehrkräfte für den Umgang mit Prüfungsangst ihrer Schüler ausgebildet.
Was ist Prüfungsangst genau? «Es ist eine Angst, die jeweils dann auftaucht, wenn unsere Leistungen bewertet werden», sagt Psychologe Fabian Grolimund. Er berät Jugendliche und Eltern im Umgang mit Schulstress und leitet zusammen mit Stefanie Rietzler die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Im Oktober erscheint ein neues Buch der beiden, eine Mutmach-Geschichte, in der die junge Ente Merle lernt, mit Notenstress und Prüfungsdruck umzugehen.
Prüfungsangst äussert sich einerseits durch körperliche Symptome wie Herzklopfen, schwitzende Hände, Schwindelgefühle. Problematischer als physische Reaktionen ist die mentale Komponente: wenn der steigende Puls mit sich selbst erfüllenden Prophezeiungen wie «Oh Gott, jetzt klappt es nicht» assoziiert wird. Wenn die Gedanken tagelang nur noch um die Prüfung kreisen. Wenn Betroffene vor lauter Leistungsdruck nicht mehr abschalten, kaum noch einschlafen können.
Etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen in westlichen Ländern leiden Studien zufolge unter einer problematischen Prüfungsangst. In der Schweiz besuchen knapp 1,1 Millionen Kinder und Jugendliche die Volks- und Mittelschule oder absolvieren eine Berufsausbildung. Das ergibt rund 170’000 Prüfungsängstliche.
Angststörungen nehmen bei Jugendlichen generell zu. Die Resultate einer Studie, welche die Stiftung Pro Juventute im letzten Jahr präsentiert hat, passen ins Bild. Etwa ein Drittel der mehr als 1000 befragten 14- bis 25-Jährigen leidet unter allgemeinem Leistungsdruck. Die grösste Stressquelle aber ist der Schul- und Prüfungsdruck. 41 Prozent sind davon häufig oder sehr häufig betroffen, wobei sich das Phänomen bei jungen Frauen und Mädchen (48,2 Prozent) stärker zeigt als bei jungen Männern und Knaben (33,5 Prozent).
Sind Prüfungen überhaupt zumutbar? Matthias Obrist, Leiter des Schulpsychologischen Dienstes der Stadt Zürich, beantwortete eine entsprechende Frage in einem Interview mit der NZZ klar: «Ja, unbedingt. Prüfungen haben immer auch einen Initiationscharakter. Das Gefühl, sich diesem Zustand auszusetzen und den Test zu bestehen, gibt den jungen Menschen eine grosse Bestätigung. Das Leben wäre langweilig ohne Prüfungen.»
Eine gewisse Nervosität, ein positives Lampenfieber stärkt die Leistung in Wettbewerbssituationen. Tennis-Champion Jannik Sinner hätte Carlos Alcaraz im Wimbledon-Final kaum besiegt, wenn er das Tennisracket im Zustand totaler Entspannung geschwungen hätte. Die Nervosität schadet dann, wenn sie Konzentration und Leistungsfähigkeit mindert.
Der Schulstress beginnt schon im Primarschulalter. Beim Übertritt auf eine neue Stufe, zum Beispiel Gymnasium ja oder nein, manifestiert er sich besonders. Oder wenn die Lehrabschluss- oder Maturaprüfungen anstehen.
Wer läuft besonders Gefahr, von Prüfungsangst übermannt zu werden? Psychologe Fabian Grolimund hat in seiner Praxis die Erfahrung gemacht: Es handelt sich vor allem um Kinder und Jugendliche, die viel von sich erwarten, sich aber gleichzeitig oft wenig zutrauen und sich davor fürchten, Fehler zu machen.
Im Kern gehe es um die Angst vor dem Selbstwertverlust und darum, niemanden enttäuschen zu wollen, sagt Grolimund. Die Betroffenen glaubten, bereits einzelne Misserfolge wären ein Zeichen von Versagen und dass sich ihr Umfeld enttäuscht zeigen könnte. «Sie haben ein Stück weit das Gefühl, dass sie sich Zuneigung durch gute Leistungen verdienen müssen.» Manchmal existiere diese Vorstellung nur im Kopf, manchmal habe sie eine reale Grundlage.
Grolimund kennt Fälle von Eltern, die kalt und ablehnend reagieren, wenn ihr Kind eine schlechte Note heimbringt. «Manche Kinder und Jugendlichen berichten zum Teil auch, dass die Eltern viel in sie investiert haben, etwa in Nachhilfekurse.» Dadurch könne ein Druck entstehen, der die ganze Familie belaste.
Vor allem manche Eltern mit Hochschulabschluss wünschten sich stark, dass ihre Kinder dereinst eine Universität absolvieren. Grolimund rät davon ab, den Nachwuchs mit grossem Aufwand in eine akademische Laufbahn zu prügeln. «Die wichtige Frage lautet nicht, ob das Kind die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium schafft. Sondern, ob diese Schulform zum Kind passt», sagt Grolimund.
Befeuert wird die Prüfungsangst durch ein Wettbewerbsklima in der Klasse, den Selektionsdruck oder das Verhalten der Lehrpersonen. Psychologe Grolimund:
Eine Rolle spielen auch die Gene. «Es gibt Kinder, die aufgrund ihrer Veranlagung ängstlicher sind. Andere stecken eine schlechte Note oder einen Versprecher während eines Vortrages einfacher weg», sagt Grolimund.
Wie finden Prüfungsängstliche aus der Negativspirale heraus? Ein Lernzeitplan, der genügend Pausen lässt, kann helfen. Wichtig zu wissen ist auch: Welche Kenntnisse werden am Test von mir eigentlich genau verlangt? An der Prüfung selber können Entspannungsübungen Linderung bringen.
Grolimund hält die Rolle der Eltern für zentral: «Sie sollten den Kindern signalisieren: Wir sind ein sicherer Hafen. Wir stehen zu euch und fangen euch bei Misserfolgen auf.» In der Schule müsse man ein Umfeld schaffen, in dem man bei Fehlern und schlechten Noten nicht abgewertet werde. Kindern und Jugendlichen rät Grolimund, sich Ziele zu setzen, die weniger von Noten abhängen. Dass man zum Beispiel am Ende des Schuljahres besser Englisch sprechen kann, anstatt eine 6 im Zeugnis zu haben. «So ist eine einzelne schlechte Note kein Drama und man kann aus Fehlern lernen.»
Man müsse negative Glaubenssätze beim Thema Leistung hinterfragen. Oft helfe ein Perspektivenwechsel. «Die Jugendlichen können sich zum Beispiel fragen: Würde ich meinen besten Freund oder meine beste Freundin auch als Versagerin sehen, bloss weil er oder sie eine Prüfung vermasselt hat? Falls nicht: Weshalb bin ich mit mir so gnadenlos?»
Die Tagesschule Ländli will derweil die Hintergründe des Umfrageresultats analysieren. Man werde in den Klassen nachfragen, was die Kinder genau unter Prüfungsangst verstünden und wie sie zustande komme, sagt Schulleiter Oliver Pfister. «Wir stellen fest, dass viele Kinder unter Druck stehen.» Etwas überrascht hat ihn das Umfrageergebnis insofern, als die Tagesschule die Noten während der Schulsemester abgeschafft hat.
Es gibt keine Zahlen zu einzelnen Lernkontrollen, sondern eine schriftliche Rückmeldung. Erst am Ende des Schuljahres gibt es ein klassisches Zeugnis mit Noten. Lange kann die Schule dieses Regime nicht mehr aufrechterhalten. Das Aargauer Kantonsparlament hat vor kurzem eine Notenpflicht aber der 3. Klasse beschlossen. (aargauerzeitung.ch)